Gerichtliche Koordination mehrerer Rekursverfahren gegen Bauentscheide
Das Baurekursgericht hat die Praxis eingeführt, mehrere Rekursverfahren gegen einen Bauentscheid unter Berufung auf eine vermeintlich erforderliche materielle Koordination gleichzeitig zu entscheiden. Einzelne Rekursverfahren werden deshalb längstens bis zur Spruchreife eines der hängigen Rekursverfahren sistiert. Dadurch werden Vergleiche zwischen der Bauherrschaft und Nachbarn zur Vermeidung aufwendiger Rekursverfahren erschwert.
Sind im Kanton Zürich Nachbarn mit einer Baubewilligung nicht einverstanden, müssen sie innert 30 Tagen nach Erhalt der Baubewilligung Rekurs dagegen erheben. Häufig haben Parteien kein Interesse daran, zeit -und kostenintensive Verfahren zu führen. Stattdessen wird versucht, die Streitsache durch einen Vergleich beizulegen und durch Projektanpassungen oder anderweitiges Entgegenkommen eine Einigung zu finden. Da Rekurse zwingend innert der 30-tägigen Frist eingereicht werden müssen, werden diese teilweise vorsorglich eingereicht, d.h. in der Rekursschrift wird zugleich ein Sistierungsantrag gestellt. Diesem Antrag entspricht das Gericht in aller Regel. Dadurch konnten die Parteien des ersten sistierten Rekursverfahrens Vergleichsgespräche führen, ohne dass es in parallelen Rekursverfahren anderer Nachbarn, in denen mangels Interesses daran keine Vergleichsgespräche geführt werden, zu Verzögerungen kommt. Mithin konnten die parallelen Rekursverfahren abgeschlossen werden, wodurch beim Abschluss einer Einigung im sistierten Verfahren umgehend eine rechtskräftige Baubewilligung vorlag.
Aktuelle Gerichtspraxis des Baurekursgerichts des Kantons Zürich
In jüngster Zeit hat das Baurekursgericht des Kantons Zürich jedoch die Praxis entwickelt, mehrere Rekursverfahren nicht einzeln zu entschieden. Stattdessen werden sämtliche Rekursverfahren sistiert oder es werden alle zu Ende durchgeführt, aber erst entschieden, wenn alle Verfahren mit ihren Rechtsschriften sowie gegebenenfalls Augenscheinen abgeschlossen bzw. spruchreif sind. Begründet wird die Praxis damit, dass in den verschiedenen Rekursverfahren die Aufhebung desselben Entscheids beantragt werde, weshalb eine materielle Koordination erforderlich sei. Verwiesen wird dabei auf den Verwaltungsgerichtsentscheid VB.2023.00209 (E. 4.2.2) vom 21. Dezember 2023, in welchem auf das Bundesgerichtsurteil BGE 148 I 53, E.4.3 verwiesen wird.
Der zitierte Bundesgerichtsentscheid betrifft allerdings einen vergaberechtlichen Entscheid. Prozessgegenstand war eine Zuschlagsverfügung, welche als «unteilbare, einheitliche Verfügung» qualifiziert wird und eine materiell koordinierte Entscheidung erfordert. Es ist augenscheinlich, dass in Vergabeverfahren eine materielle Koordination erforderlich ist. In Erwägung 4.1 des Bundesgerichtsentscheids BGE 148 I 53 wird diesbezüglich das Beispiel genannt, dass der Entscheid in einem der Beschwerdeverfahren zum Abbruch des gesamten Vergabeverfahrens die Gegenstandslosigkeit des zweiten Beschwerdeverfahrens zur Folge hätte; ohne dass das Gericht die Argumente der Parteien des zweiten Beschwerdeverfahrens berücksichtigt bzw. gehört hätte. Das Erfordernis eines einheitlichen Entscheides ergibt sich im zitierten Entscheid somit aus einer Besonderheit des Vergaberechts.
Zweifelhafte Anwendung bei Rekursverfahren gegen Bauentscheide
Indem das Baurekursgericht und das Verwaltungsgericht diesen Bundesgerichtsentscheid in Rekursverfahren gegen Bauentscheide anwenden, verkennen sie die wesentlichen Unterschiede zwischen Vergabe- und Baubewilligungsverfahren. In Rechtsmittelverfahren gegen Bauentscheide sind die Bauherrschaft und die Vorinstanz Parteien sämtlicher Rekursverfahren und können sich somit in allen hängigen Verfahren umfassend äussern. Selbst bei einer allfälligen Aufhebung einer Baubewilligung konnten sich die Bauherrschaft und die Vorinstanz als unterliegende Parteien des zuvor entschiedenen Rekursverfahrens rechtsgenügend zum Streitgegenstand äussern. Obsiegen dagegen die Bauherrschaft und die Vorinstanz im ersten Rekursverfahren, darf dies keine Auswirkungen auf spätere Verfahren haben; namentlich ist die Gutheissung des Rekurses im späteren Verfahren bzw. die Aufhebung der Baubewilligung aufgrund der Rügen des zusätzlichen Rekurrenten weiterhin uneingeschränkt möglich. Es besteht damit kein Erfordernis zur materiell koordinierten Entscheidung.
Konsequenzen für die Beteiligten und die Gerichte
Hält das Baurekursgericht weiterhin an seiner Praxis zur parallelen Durchführung mehrerer Rekursverfahren fest, hat dies gewichtige Nachteile für die Bauherrschaft. Sie hat zu entscheiden, ob sie die aus der Verfahrenssistierung resultierende Verzögerung des durchprozessierten Verfahrens hinnimmt oder ob sie unter Aufwendung von Kosten auch das Rekursverfahren der Nachbarn, mit denen Vergleichsgespräche geführt werden, fortsetzen möchte und damit zugleich die Vergleichsbemühungen erschwert.
Der Versuch einer gütlichen Einigung auch zur Vermeidung von Prozessen wird ad absurdum geführt und die Parteien werden faktisch gezwungen, den Rechtsweg konsequent zu durchschreiten. Damit ist weder den Parteien noch den Gerichten gedient, da durch die neue Praxis die Arbeit bei den Parteien, aber auch bei den Gerichten zunimmt und einvernehmliche Lösungen – das eigentliche Ziel wohlverstandener Streiterledigung – erschwert werden.
Autorin: Jennifer Caminada